Text/Fotos © Ralf Brandstetter
 
Neringa - Wüste an der Ostsee
 

"Als die Riesin Neringa sah, welche Mühsal die Fischerei den Menschen bereitete, war sie entschlossen zu helfen. Sie füllte ihre Schürze mit Sand und schüttete mit diesem eine lange, schmale Landzunge auf. Die Kurische Nehrung war geboren. Gleich einem fest verankerten, schmalen Schiff ragte dieser Sandwall nun in die Fluten der Ostsee und war vom Anfang bis zum heutigen Tage von Fischern bewohnt."
So beschreibt ein litauisches Märchen die Entstehung der Kurischen Nehrung. Fast hundert Kilometer ist sie lang, aber an ihrer breitesten Stelle nur vier Kilometer und an ihrer schmalsten Stelle nur knapp vierhundert Meter breit. Schon Wilhelm von Humboldt sagte über sie: "Die Kurische Nehrung ist so merkwürdig, daß man sie eigentlich ebensogut wie Spanien und Italien gesehen haben muß, wenn einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen soll."
Erst seit 1988 ist sie westlichen Besuchern wieder zugänglich. Ein ehemalig ostpreußischer Teil ist heute russisches Gebiet. Ihr litauischer Name "Neringa" enthält das altpreußische Wort "Neria", welches bedeutet: Ein von Wellen aufgeworfener Landstreifen.


Die erdgeschichtliche Entstehung

5000 bis 6000 Jahre soll ihr Alter betragen. Nach menschlichen Maßstäben uralt, im geologischen Sinn aber sehr jung. Nach dem Ende der letzten Eiszeit überflutete die Ostsee nach einer vermutlichen Bodensenkung weite Teile des noch aus Festland bestehenden heutigen Kurischen Haffs. Nur ein schmaler Landstreifen (um Sarkau) und ein Inselkern (Rossitten) blieben bestehen. Die bis heute am Samlandblock (Landmasse zwischen Kurischer und Frischer Nehrung) nagende Ostsee, lagerte nun das hauptsächlich dort abgetragene Material in Form von vorerst einzelnen Sandwällen wieder ab. Die erwähnten beiden alten Landkerne wirkten zusammen mit der ertrunkenen Küste als Leitlinie. Langsam entstand aufgrund der vorherrschenden Ostseeströmungen die heutige Form dieser am Samland (Bernsteinküste) hängenden Halbinsel. Die Vegetation eroberte nach und nach die wüstenartigen Sandflächen und Dünen, so daß die Urnehrung letztlich vollständig bewaldet war. Das Kurische Haff, gespeist von zahlreichen Flüssen, süßte langsam aus und mündete im Memeler Tief in die Ostsee. Eine Vermischung des Süßwassers des Haffs mit dem Salzwasser der Ostsee findet in geringem Maße nur an der Nehrungsspitze statt.


Menschliche Umweltkatastrophe

Schon immer wurde auf der Nehrung die Fischerei betrieben. Landwirtschaft war nur in Rossitten möglich (alte Landmasse). Die vorhandenen Holzbestände waren im Mittelalter ein begehrter Rohstoff, zu begehrt. Massive Abholzungen und die hierdurch einsetzende Erosion legten die Sandmassen wieder bloß. Die zur Ruhe gekommenen Dünen erwachten zu neuem Leben. Aufzeichnungen aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts lassen auf erste Versandungen schließen. Durch diese menschlich herbeigeführte Umweltkatastrophe entstand "Die Wüste an der Ostsee" erneut. Es trug der Kurischen Nehrung die Bezeichnung  "europäische Sahara" ein und machte sie, neben ihrer eigentümlichen Form, zu einer der einzigartigsten und interessantesten Gebiete Europas.


Fliegender Sand

Die freigelegten alten Wanderdünen bekamen zusätzlich neue Nahrung. Der abgeholzte und nun fehlende schützende Wald ließ den von der Ostsee angespülten Sand, bei meist vorherrschendem Westwind, über die Nehrung fliegen. Es entstanden gewaltige Dünen, die Richtung Haff wanderten. Noch vorhandener Wald wurde vom Sand der heranrückenden Wanderdünen förmlich verschluckt. Im Lauf von drei Jahrhunderten wurden mindestens sieben Dörfer verschüttet. Einige wurden durch Verlegung, zumindest zeitweise vor der Versandung bewahrt. Der noch heute bestehende Ortsname Perwelk (Pervalka) bedeutet "hergeschleppt". Die Menschen aber blieben und gaben den oft aussichtslosen Kampf nie auf. Zu einzigartig war und ist die Kurische Nehrung.


Die Festlegung der Dünen

Langsam wurden Techniken entwickelt, die Sandmassen wieder festzulegen. Am Ostseestrand wurde eine künstliche  Vordüne geschaffen, welche große Mengen des verwehten Sandes abfing. Darauf angepflanzter Strandhafer gab dem Sand den nötigen Halt. Das Hinterland wurde vornehmlich mit  Zwergkiefern bepflanzt, welche den Sand fingen und deren Wurzeln ihn an Ort und Stelle hielten. Flechtwerk und die Bepflanzung mit  Strandhafer hinderten die großen Wanderdünen an ihrem voranschreiten und fesselten sie schließlich ganz. Im 19. Jahrhundert war die Gefahr, die von ihnen für die Bewohner der Kurischen Nehrung ausging, gebannt. Schwere Ostseestürme machten die Nehrung 1980 zeitweise zur Insel. An ihrer schmalsten Stelle zwischen Cranz und Sarkau war eine zweite Verbindung zwischen Kurischem Haff und Ostsee entstanden. Nur mit großer Mühe konnte dieser Durchbruch der Ostsee wieder geschlossen werden.


Die heutige Kurische Nehrung

Mit einem litauischen Linienflug erreichte ich im Juni Polangen (Palanga). In Litauen liegt übrigens im Dorfe Bertonai (25 Kilometer nördlich von Vilnius) der geometrische Mittelpunkt Europas. Nach dem Übersetzen mit der Fähre in Memel (Klaipeda) auf die Süderspitze der Nehrung und einer Autofahrt von etwa zweistündiger Gesamtdauer erreichte ich Nidden (Nidda). Dieser Ort, nahe der russischen Grenze der Nehrung, gilt als einer der schönsten Orte Litauens. Seit 1976 ist der litauische Teil der Nehrung ein Naturschutzpark. Der Naturschutzgrenzposten liegt kurz vor Schwarzort (Juodkrante). Auch der anschließende russische Teil ist ein Naturschutzgebiet. Der Frühsommer mit angenehmen Temperaturen bietet sich als Reisezeit besonders an. Thomas Mann, der auf Nidden ein Sommerhaus besaß, welches heute zu besichtigen ist, sagte einmal, daß es sich mit dem dortigen Wetter verhielte, wie mit einer launischen Frau. Heute ist der Großteil der Kurischen Nehrung wieder mit Vegetation bedeckt. In Schwarzort wurde bis 1899 durch Ausbaggern des Haffufers  Bernstein gewonnen (Bernsteinhafen von Schwarzort). Nicht weit von hier befindet sich eine  Kormorankolonie.


Ostseestrand und Haffufer

Vor allem bei Nidden und dem sich anschließenden russischen Teil ist die "Wüste am Meer" am besten erhalten. Leider ist der russische Grenzübertritt recht umständlich und zeitraubend, und die interessantesten Gebiete sind militärisches Sperrgebiet. Wer die Einsamkeit liebt ist auf der Kurischen Nehrung noch am richtigen Ort. Der langestreckte Ostseestrand ist oft menschenleer, was noch mehr für das  Haffufer gilt. Stundenlange Wanderungen durch reizvolle, noch unberührte Natur lassen einen die Schnellebigkeit der heutigen Zeit vergessen. Das sandige Gelände ist übersät mit zahlreichen Fangtrichtern des  Ameisenlöwen, der Larve der libellenähnlichen Ameisenjungfer.  Sandlaufkäfer huschen auf der Suche nach Beute über den Sand. Sie zu fotografieren gelingt nur bei bedecktem Himmel, bei Sonnenschein fliegen sie selbst bei vorsichtiger Annäherung schnell auf. Zahlreiche  Nebelkrähen, die osteuropäischen Vertreter unserer Rabenkrähe, hinterlassen auf der Futtersuche ihre  Spuren im lockeren Sand. Sie wurden in früheren Zeiten gefangen und verzehrt, was neben dem Fischfang eine wichtige Einnahmequelle darstellte. An geeigneten Stellen des Haffufers sammeln Rauchschwalben "Mörtel" für ihre Nester, die unter den für die Nehrung typischen verzierten Holzgiebeln der Fischerhäuser hängen. Mit viel Glück können Elche beobachtet werden, die in den dichten Waldgebieten versteckt vorkommen. Im Gegensatz zum recht gerade verlaufenden  Ostseestrand, ist die Haffseite von zahlreichen sogenannten Haken gesäumt. Sie sind durch ins oftmals recht flache Haff gewanderte Dünen entstanden. Ganz in der Nähe von Nidden befindet sich auch die breiteste Stelle der Nehrung, der  Bullwikscher Haken. Durch einen Rundflug in einem Sportflugzeug wird die schmale Form der Kurischen Nehrung am deutlichsten. An günstigen Stellen der Nehrung kann der aus dem Haff aufsteigende Mond beobachtet werden, während gegenüber die Sonne in der Ostsee versinkt.


Hohe Düne bei Nidden

Nicht weit entfernt von Nidden liegt eine der letzten großen Wanderdünen, die "Hohe Düne". Auf ihrem mächtigen Rücken verläuft die Grenze zum russischen Teil der Nehrung. Litauische Grenzsoldaten machen dort ein Weiterkommen unmöglich. Die Optimalform einer Wanderdüne ist die Parabel. Ihre offene Seite ist dem Haff zugerichtet, da die Nehrungswinde vorwiegend von der Ostsee kommen. Die Parabelform entsteht durch den Umstand, daß der Wind auf dem mächtigen Dünenrücken größere Sandmengen zu transportieren hat, als auf den kleineren Flanken. Diese eilen hierdurch dem Mittelteil der Düne voraus und es entsteht eine Parabel. Da sich einzelne Dünen zum Teil überlagern und die Windrichtung wechselt, ist eine optimale Parabelform jedoch selten. Die Form der Hohen Düne bei Nidden zeigt diese Phänomen jedoch deutlich. Der Luvhang (Ostseeseite) der Wanderdünen steigt mit vier bis zwölf Grad flach an. Da die Windgeschwindigkeit mit steigender Höhe zunimmt, geht ihre maximale Höhe über sechzig Meter nicht wesentlich hinaus. Der vom Wind über die Oberfläche des Luvhangs getriebene Sand, kommt im Windschatten des Leehangs wieder zur Ruhe. Es ensteht haffseitig ein Sturzhang mit einer Steigung von rund dreißig Grad. Während der Luvhang langsam abgetragen wird, schiebt sich der Leehang stetig nach vorne, die Düne wandert. An stürmischen Tagen ist die Sandfracht des Windes so groß, daß der Kamm der Düne zu rauchen scheint. Der Sand des Luvhangs besitzt aufgrund des auf ihm lastenden Winddrucks eine gewisse Festigkeit. Der Leehang befindet sich dagegen im Windschatten, sein Sand liegt daher sehr locker. Er kommt sehr leicht ins Rutschen, wodurch sich eigentümliche Sandnasen und Streifen bilden. Sind dies die Kennzeichen des  Leehangs, so sind es am Luvhang die  Wellenfurchen. Die Wellenlinien des Sandes entstehen auf die gleiche Weise, wie diejenigen auf Wasserflächen. An der Grenzfläche zweier Medien, die sich unterschiedlich schnell bewegen, entstehen sogenannte Helmholtzsche Wellen. Das enorme Gewicht der großen Dünen drückt oft den weichen Haffmergelgrund (Ton-Kalk-Gemisch) nach oben. Eine solche Haffmergelaufpressung befindet sich auch am Sturzhang der Hohen Düne in Nidden. Der fruchtbare Haffmergel ist dort dicht mit Vegetation bedeckt. Der Sand unter der Oberfläche der großen Dünen ist recht feucht. 1922 ereignete sich bei Schwarzort ein sogenannter Dünensturz. Vorausgegangene starke Trockenheit und ein abfallender Grundwasserspiegel führten zu einer Austrocknung einer dortigen Wanderdüne. Mit einem Grollen in ihrem Inneren wurde ein Aufreißen und Zerfallen der Düne eingeleitet, bei dem große Sandmassen ins Haff stürzten.


Vogelzuggebiet

Auf der Kurischen Nehrung wurde 1901 im damaligen ostpreußischen Rossitten von J. Thienemann die erste Vogelwarte der Welt gegründet. Sie wird heute unter russischer Leitung (Vogelwarte Rybatschi) weitergeführt. Hier werden im Herbst, neben dem Frühjahr die Hauptzugszeit, in der Fangstation "Fringilla" mit großen Netzreusen täglich mehrere tausend Vögel eingefangen und beringt. Da Waldvögel das Überfliegen größerer Wasserflächen vermeiden, dient die langgestreckte Nehrung als Zugbrücke über die Ostsee bzw. das Kurische Haff. Aufgrund ihrer geringen Breite kommt es zu einer Verdichtung des Vogelzuges. Durch die Vogelwarte erfolgt ein jährliche Beringung von etwa 50. bis 60. tausend Tieren, vorwiegend Singvögel.


Tote Dünen bei Perwelk

Ein Linienbus verkehrt auf der alten Poststraße, welche über die ganze Länge der Nehrung führt. Zwischen Perwelk und Schwarzort läßt der Fahrer mich aussteigen. Hier befindet sich das Gebiet der  Toten Dünen. Es ist nur ein einzelner unbewachsener  Sturzhang zu finden, alle anderen sind bewachsen. Auch die alten Dünenkämme sind mit Vegetation bedeckt.  Sandstiefmütterchen (Viola tricolor) und Sandglöckchen (Jasione montana) wirken neben der stacheligen  Stranddistel (Eryngium maritimum) wie Farbtupfer im hellen Untergrund. Eine hügelige, steppenähnliche Landschaft ist bei Perwelk entstanden. Doch nach jedem bewachsenen Kamm kann sich ein gewaltiger Dünenkessel öffnen. Der Sand ist hier durch eingesickerte Huminsäuren stellenweise verfestigt. Die steilen Kesselwände ähneln hierdurch oft einem Schichtkuchen. Die verschiedenen Sandschichten unterscheiden sich in Zusammensetzung und Feuchtigkeitsgrad, welches unterschiedlichste Muster entstehen läßt. Durch die Mächtigkeit mancher Dünenkessel wird mir bewußt, was für menschliche Dramen sich hier einmal abgespielt haben müssen. Abgeschnitten von ihrer Nahrungsquelle Ostseesand werden die letzten großen Wanderdünen aber Jahr für Jahr etwas kleiner. Es sind sterbende Dünen, denn der Schluß des Gedichtes "Die Frauen von Nidden" von Agnes Miegel, fand vor rund Hundert Jahren ein Ende: " ... und die Düne kam und deckte sie zu."

 
 
    Neringa          << home         << zurück    
 
____________________
___________